Die erkaltete Asche über der Glut wegräumen
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Der Einsiedler Abt Martin Werlen erachtet die heutige Situation der Kirche als dramatisch. In seiner jüngsten Schrift, einer "Pro-Vokation" zum Jahr des Glaubens 2012/13, benennt er Probleme, die in der katholischen Kirche gerne unter den Teppich gekehrt werden.
"Ich sehe so viel Asche, die in der Kirche über der Glut liegt, dass mich manchmal Hoffnungslosigkeit bedrängt." Dies sagte der kürzlich verstorbene Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini in seinem letzten Interview. Martin Werlen zitiert das Wort in einem Referat, das er am 21. Oktober zur Eröffnung des Glaubensjahres in der Klosterkirche Einsiedeln SZ gehalten hat. Dieser Tage ist der Aufsehen erregende Text überarbeitet in einer Broschüre veröffentlicht worden.
Es handle sich dabei um ein Arbeitsdokument, das diskutiert werden solle und kritisiert werden dürfe, heisst es im Kurztext zur Broschüre. Und: "Hoffentlich ermutigt es in der Kirche engagierte Menschen, trotz aller Versuchung zur Verzweiflung miteinander die Glut unter der Asche zu suchen, damit das Feuer wieder zum Brennen kommt."
Haufen von erkalteter Asche
Martin Werlen versteht seine Gedanken durchaus als Provokation. In diesem Wort sei der Begriff "vocatio" - Ruf, Berufung - enthalten, und das "pro" sage klar aus, dass die Berufung "in positiver Weise" herausgefordert und gefördert werde. Die Gedanken "wollen ermutigen, miteinander die Glut unter der Asche zu suchen, damit das Feuer wieder brennen kann."
Ungezählte Haufen von erkalteter Asche macht Werlen in der heutigen Kirche aus. Seine ungeschönte Diagnose: Die Situation der Kirche ist, fünfzig Jahre nach Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65), nicht nur in den deutschsprachigen Ländern "dramatisch". Es fehlen nicht nur immer mehr die Priester und Ordensleute, und es geht nicht nur der Kirchenbesuch kontinuierlich zurück, sondern das wirkliche Problem liegt laut Werlen anderswo: "Es fehlt das Feuer!"
Rund 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung gehört zu keiner Glaubensgemeinschaft. Tendenz zunehmend. Für Werlen ist klar: "Wenn der Prozess so weitergeht, kann die erkaltete Kirche tatsächlich in unseren Breitengraden mit ihren Institutionen verschwinden." Die Versuchung in dieser Situation, bei der Asche stehen zu bleiben, ist gross, meint Werlen und kommt auf die grosse Polarisierung zwischen konservativ und progressiv in der heutigen Kirche zu sprechen. Auf beiden Seiten drehe sich vieles um die Asche. Für ihn ist klar. "Wenn wir als Kirche in den Polarisierungen stehen bleiben, dann stehen wir den Menschen im Weg, die Glut zu entdecken, die Leben schenkt und auch heute noch brennen will." Das Anliegen müsse sein, "heute zu hören, was Gott uns sagen will und es auch zu tun."
Selbstverschuldeter Schlamassel
Kein Blatt nimmt Werlen vor den Mund, wenn es um den selbstverschuldeten Schlamassel in der Kirche geht. Wenn es heute noch Kirchenmänner gebe, die darüber klagten, dass seit vierzig Jahren immer die gleichen Probleme thematisiert würden, so werde damit Zentrales aufs Spiel gesetzt, meint Werlen. "Wenn Probleme nicht angegangen werden oder nicht einmal über sie gesprochen werden darf, so wird mit solchen Verhaltensweisen die Glaubwürdigkeit - und damit aber auch das Glaubensgut - aufs Spiel gesetzt. Es geht um Wesentliches!" Mehr noch: Ein "Akt des Ungehorsams" sei es, wenn Situationen und Menschen nicht ernstgenommen würden.
In Anspielung etwa auf die Pfarrei-Initiative Schweiz und ähnliche Vorstösse weltweit schreibt Werlen: "Weil Verantwortungsträger ihre Aufgabe nicht wahrnehmen und somit ungehorsam sind, werden als Nothilfe und Hilfeschrei Initiativen gestartet, die verständlich sind, aber auch zur Abspaltung und zum Verlassen der Institution führen können." Er habe Verständnis für viele Initiativen, die in den letzten Jahrzehnten gestartet worden seien, wolle aber einen anderen Weg weitergehen: "Miteinander die Glut in der Asche entdecken."
Eingebüsste Glaubwürdigkeit
In den letzten Jahren hat die Kirche für Martin Werlen "sehr viel an Glaubwürdigkeit eingebüsst". Wenn es heute noch kirchliche Amtsträger gebe, die in der Öffentlichkeit sagen könnten, "dass die meisten sexuellen Übergriffe nicht in der Kirche geschehen, sondern in Familien, verraten sie damit neben einer unverantwortlichen defensiven Haltung auch theologische Inkompetenz." Auf diese Weise werde das Zeugnis der Kirche geschwächt: "Wenn sexuelle Übergriffe in Familien von Getauften geschehen, so sind das genauso Übergriffe in der Kirche. Zur Kirche gehören alle Getauften. Das Zeugnis aller Getauften ist gefordert."
Überholtes System der Bischofsernennungen
Erkaltete Asche, die es wegzuräumen gilt, sieht Werlen etwa im geltenden System der Bischofsernennungen. Für die Kirche im 21. Jahrhundert müsste es selbstverständlich sein, dass die Getauften und Gefirmten einer betroffenen Diözese "in angemessener Weise" in den Ernennungsprozess mit einbezogen würden.
Erkaltete Asche macht Werlen auch in der festgefahrenen Zölibatsdiskussion aus. Die zölibatäre Lebensform sei ein möglicher Weg der Nachfolge Jesu Christi, "genauso wie die eheliche Lebensform". Beide Lebensformen seien Geschenke Gottes, doch werde das in der Öffentlichkeit kaum mehr so wahrgenommen, auch nicht unter Getauften: "Wir haben es fertiggebracht, die Christusnachfolge in der Ehelosigkeit so zu präsentieren, dass sie einfach als Gesetz gilt."
Erkaltete Asche sieht Werlen auch in der Geschlechterfrage, in der sich die Kirche "unbeholfen und ratlos" zeige: "Der Mensch ist Mann oder Frau. Mit dem Ja zur Frau tut sich die Kirche immer noch schwer."
Für fünf Jahre den Papst beraten
Asche macht Werlen auch im Beratungsgremium des Papstes aus. Spielraum für neue Wege gäbe es genügend, meint Werlen - Kardinäle gehören schliesslich nicht zum Glaubensgut. Werlens Vorschlag: Für jeweils fünf Jahre könnten Menschen aus der ganzen Welt - Frauen und Männer, Junge und weniger Junge - in dieses Gremium berufen werden. Alle drei Monate würden sie sich in Rom mit dem Papst treffen. Niemand unter den Anwesenden würde wegen der Sorge um die eigene Karriere etwas sagen oder verschweigen. Solche Treffen, schreibt Werlen, "könnten eine andere Dynamik in die Leitung der Kirche bringen."
Von Josef Bossart / Kipa
Hinweis: Die Broschüre "Miteinander die Glut unter der Asche entdecken" kann online bestellt werden. Der Reinerlös dieser Publikation geht an das Liturgische Institut.
"Ich sehe so viel Asche, die in der Kirche über der Glut liegt, dass mich manchmal Hoffnungslosigkeit bedrängt." Dies sagte der kürzlich verstorbene Mailänder Kardinal Carlo Maria Martini in seinem letzten Interview. Martin Werlen zitiert das Wort in einem Referat, das er am 21. Oktober zur Eröffnung des Glaubensjahres in der Klosterkirche Einsiedeln SZ gehalten hat. Dieser Tage ist der Aufsehen erregende Text überarbeitet in einer Broschüre veröffentlicht worden.
Es handle sich dabei um ein Arbeitsdokument, das diskutiert werden solle und kritisiert werden dürfe, heisst es im Kurztext zur Broschüre. Und: "Hoffentlich ermutigt es in der Kirche engagierte Menschen, trotz aller Versuchung zur Verzweiflung miteinander die Glut unter der Asche zu suchen, damit das Feuer wieder zum Brennen kommt."
Haufen von erkalteter Asche
Martin Werlen versteht seine Gedanken durchaus als Provokation. In diesem Wort sei der Begriff "vocatio" - Ruf, Berufung - enthalten, und das "pro" sage klar aus, dass die Berufung "in positiver Weise" herausgefordert und gefördert werde. Die Gedanken "wollen ermutigen, miteinander die Glut unter der Asche zu suchen, damit das Feuer wieder brennen kann."
Ungezählte Haufen von erkalteter Asche macht Werlen in der heutigen Kirche aus. Seine ungeschönte Diagnose: Die Situation der Kirche ist, fünfzig Jahre nach Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65), nicht nur in den deutschsprachigen Ländern "dramatisch". Es fehlen nicht nur immer mehr die Priester und Ordensleute, und es geht nicht nur der Kirchenbesuch kontinuierlich zurück, sondern das wirkliche Problem liegt laut Werlen anderswo: "Es fehlt das Feuer!"
Rund 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung gehört zu keiner Glaubensgemeinschaft. Tendenz zunehmend. Für Werlen ist klar: "Wenn der Prozess so weitergeht, kann die erkaltete Kirche tatsächlich in unseren Breitengraden mit ihren Institutionen verschwinden." Die Versuchung in dieser Situation, bei der Asche stehen zu bleiben, ist gross, meint Werlen und kommt auf die grosse Polarisierung zwischen konservativ und progressiv in der heutigen Kirche zu sprechen. Auf beiden Seiten drehe sich vieles um die Asche. Für ihn ist klar. "Wenn wir als Kirche in den Polarisierungen stehen bleiben, dann stehen wir den Menschen im Weg, die Glut zu entdecken, die Leben schenkt und auch heute noch brennen will." Das Anliegen müsse sein, "heute zu hören, was Gott uns sagen will und es auch zu tun."
Selbstverschuldeter Schlamassel
Kein Blatt nimmt Werlen vor den Mund, wenn es um den selbstverschuldeten Schlamassel in der Kirche geht. Wenn es heute noch Kirchenmänner gebe, die darüber klagten, dass seit vierzig Jahren immer die gleichen Probleme thematisiert würden, so werde damit Zentrales aufs Spiel gesetzt, meint Werlen. "Wenn Probleme nicht angegangen werden oder nicht einmal über sie gesprochen werden darf, so wird mit solchen Verhaltensweisen die Glaubwürdigkeit - und damit aber auch das Glaubensgut - aufs Spiel gesetzt. Es geht um Wesentliches!" Mehr noch: Ein "Akt des Ungehorsams" sei es, wenn Situationen und Menschen nicht ernstgenommen würden.
In Anspielung etwa auf die Pfarrei-Initiative Schweiz und ähnliche Vorstösse weltweit schreibt Werlen: "Weil Verantwortungsträger ihre Aufgabe nicht wahrnehmen und somit ungehorsam sind, werden als Nothilfe und Hilfeschrei Initiativen gestartet, die verständlich sind, aber auch zur Abspaltung und zum Verlassen der Institution führen können." Er habe Verständnis für viele Initiativen, die in den letzten Jahrzehnten gestartet worden seien, wolle aber einen anderen Weg weitergehen: "Miteinander die Glut in der Asche entdecken."
Eingebüsste Glaubwürdigkeit
In den letzten Jahren hat die Kirche für Martin Werlen "sehr viel an Glaubwürdigkeit eingebüsst". Wenn es heute noch kirchliche Amtsträger gebe, die in der Öffentlichkeit sagen könnten, "dass die meisten sexuellen Übergriffe nicht in der Kirche geschehen, sondern in Familien, verraten sie damit neben einer unverantwortlichen defensiven Haltung auch theologische Inkompetenz." Auf diese Weise werde das Zeugnis der Kirche geschwächt: "Wenn sexuelle Übergriffe in Familien von Getauften geschehen, so sind das genauso Übergriffe in der Kirche. Zur Kirche gehören alle Getauften. Das Zeugnis aller Getauften ist gefordert."
Überholtes System der Bischofsernennungen
Erkaltete Asche, die es wegzuräumen gilt, sieht Werlen etwa im geltenden System der Bischofsernennungen. Für die Kirche im 21. Jahrhundert müsste es selbstverständlich sein, dass die Getauften und Gefirmten einer betroffenen Diözese "in angemessener Weise" in den Ernennungsprozess mit einbezogen würden.
Erkaltete Asche macht Werlen auch in der festgefahrenen Zölibatsdiskussion aus. Die zölibatäre Lebensform sei ein möglicher Weg der Nachfolge Jesu Christi, "genauso wie die eheliche Lebensform". Beide Lebensformen seien Geschenke Gottes, doch werde das in der Öffentlichkeit kaum mehr so wahrgenommen, auch nicht unter Getauften: "Wir haben es fertiggebracht, die Christusnachfolge in der Ehelosigkeit so zu präsentieren, dass sie einfach als Gesetz gilt."
Erkaltete Asche sieht Werlen auch in der Geschlechterfrage, in der sich die Kirche "unbeholfen und ratlos" zeige: "Der Mensch ist Mann oder Frau. Mit dem Ja zur Frau tut sich die Kirche immer noch schwer."
Für fünf Jahre den Papst beraten
Asche macht Werlen auch im Beratungsgremium des Papstes aus. Spielraum für neue Wege gäbe es genügend, meint Werlen - Kardinäle gehören schliesslich nicht zum Glaubensgut. Werlens Vorschlag: Für jeweils fünf Jahre könnten Menschen aus der ganzen Welt - Frauen und Männer, Junge und weniger Junge - in dieses Gremium berufen werden. Alle drei Monate würden sie sich in Rom mit dem Papst treffen. Niemand unter den Anwesenden würde wegen der Sorge um die eigene Karriere etwas sagen oder verschweigen. Solche Treffen, schreibt Werlen, "könnten eine andere Dynamik in die Leitung der Kirche bringen."
Von Josef Bossart / Kipa
Hinweis: Die Broschüre "Miteinander die Glut unter der Asche entdecken" kann online bestellt werden. Der Reinerlös dieser Publikation geht an das Liturgische Institut.